Bergstolz Issue No. 117

40 NORWEGEN Bergstolz Ski & Bike Magazin • 07 |2023 „Dieses Jahr fahren wir mal ans Meer!“ - wünscht sie sich. Ich willige ein und schreibe einem Freund aus Tromsö: „Hey mate, how’s life far north? How are the snow conditions?“ Die Nachrichten aus dem hohen Norden klingen äußerst positiv. Fotos von meterhohen Schneewänden und blauen Fjorden wirken beim Blick auf die grün-braune Alpenlandschaft vor der Haustür fast surreal. Down Days, technische Probleme und südseitiger Sonnen-Pulver Es ist Ende März. Bei unserer Ankunft in Tromsö herrscht tiefster Winter. Viel Schnee, viel Wind und eine extrem angespannte Lawinensituation. Nachts heult der Wind, bringt neuen Schnee und am nächsten Morgen ist vom Parkplatz nicht mehr viel zu sehen. Den Allradantrieb etwas überschätzt, verbringen wir den Tag mit sechs Stunden schaufeln - erfolglos. Erst ein netter Mitarbeiter vom Abschleppdienst befreit uns mit schwerem Gerät aus dieser misslichen Lage. Mit Reparaturen am Auto, der Kalorienzufuhr durch Zimtschnecken und der anschließenden Kalorienverbrennung in der Kletterhalle überbrücken wir die Down Days in Tromsö. Lawinenlagebericht und Wetterdienst versprechen für die kommenden Tage endlich brauchbare Skitourenverhältnisse. Viel Sonne, wenig Wind, Temperaturen um den Gefrierpunkt und südseitig eine rasche Stabilisierung der Schneedecke. Ein Ziel ist schnell auserkoren: Der Südanstieg auf den Tromsøer Hausberg Tromsdalstinden. Weitläufige, nicht zu steile Hänge, lichte Birkenwälder und atemberaubende Ausblicke auf die Gipfel der Lyngen Alps - oh ja, hier sind wir genau richtig! Ein paar Frühaufsteher haben bereits fleißig gespurt und ästhetische Linien in den frischen Pulverschnee gezogen. Am Gipfelgrat pfeift der Wind bitterkalt, also schnell die Felle im Rucksack verstaut und die Skischuhe verriegelt. Mit jedem Schwung stauben die Schneekristalle auf und funkeln im Sonnenlicht. Genau so haben wir uns das während der vergangenen, grauen und stürmischen Tage ausgemalt. Nordwärts! Nach einem ganzen Tag wedeln im Pulverschnee des Tromsdalstinden wollen wir mehr - mehr von diesem Gefühl, auf einer Wolke dem Tal entgegen zu schweben. Die Ski unter dem Bett des Campers verstaut und schon rollen wir durch das Breivikeidet- Tal in Richtung Fähre, die uns auf die Lyngen Halbinsel bringen soll. Lyngen Alps: der Inbegriff von Skitouren und alpinen Abenteuern im hohen Norden. Wo imposante Granitwände aus den Fjorden ragen, steile Couloirs und ausgesetzte Gipfel Bergsteigerherzen höher schlagen lassen. Als wir an diesem Abend in Svensby von der Fähre fahren, taucht die tief stehende Sonne das Jiehkkevárri Massiv in eine sanfte Röte. So traumhaft schön die Abendstimmung, so mau die aktuelle Schneelage. Der Niederschlag der letzten Wochen scheint in den Bergen Tromsös hängengeblieben zu sein. Kurzerhand entscheiden wir uns, in Lyngseidet die nächste Fähre zu nehmen und folgen der Europastraße E6 weiter Richtung Norden. An der Grenze zur Finnmark, der nördlichsten Region Norwegens, liegen die Berge von Øksfjord. Ein Gletscherplateau umgeben von schroffen, teils namenlosen Gipfeln. Das Eis des Øksfjordjøkelen-Gletschers stürzt am Isfjord direkt in das Meer. Osterüberraschung am Laslettinden Ostersonntag - die Wolken hängen tief, Regen prasselt aufs Dach, außer dem Goldhasen glänzt nicht viel an diesem Tag. Nach einem ausgedehnten Frühstück packen wir dann doch die Rucksäcke und öffnen die Luke zur Außenwelt. Jene Außenwelt liegt in diesem Fall fast 400 Kilometer nördlich des Polarkreises, in der Hochebene Jøkkelfjordeidet, südlich des Øksfjord-Gletschers. Klebrig, schwer und nass - der Schnee ist an diesem Tag weit davon entfernt, leicht und fluffig zu sein. Getreu dem nordischen Motto „Friluftsliv“ - das Draußensein zelebrieren - werfen wir uns in die wasserfeste Kluft und hoffen am Laslettinden mit zunehmender Höhe auf Schnee statt Regen. 200 Höhenmeter später klebt zwar der frische Pulverschnee ordentlich an unseren durchnässten Fellen, die Vorfreude auf fluffige Ostersonntags-Schwünge aber wird dadurch kaum getrübt. Leichte Schneeschauer, wabernde Wolkenfetzen, die immer wieder Tiefblicke auf das Nordmeer gewähren und gelegentliche Sonnenstrahlen - Aprilwetter! Auch wenn der Osterbrunch am Gipfel dem stimmungsgeladenen Wetter zum Opfer fällt, die 15cm Pulverschnee auf fester Unterlage sind Osterüberraschung genug. Intuition am Jøkkelfjord Noch am Abend lichten sich die Wolken, es wird deutlich kälter und das nächste Schönwetterfenster bahnt sich an. Wir bleiben im Jøkkelfjordeidet, wollen am nächsten Tag aber die Berge nördlich des Tales erkunden. Auf der Karte finden sich zwar viele Gipfel, nur wenige aber tragen überhaupt einen Namen. Auch konnten wir für dieses Gebiet keine Führerliteratur ausfindig machen. Intuition, ein Gespür für das Gelände und eine sorgsame Routenwahl anhand des Lawinenlageberichts sind gefragt. Am nächsten Morgen sind die Verhältnisse nahezu perfekt. Die Kälte der Nacht hat den nassen Schnee vom Vortag in eine tragfähige Kruste verwandelt, die uns ein flottes Vorankommen im anfangs flachen Tal ermöglicht. Wieder finden wir mit zunehmender Höhe eine feine Auflage Pulverschnee - unberührt und mit wenig Windeinfluss. Vieksevárri (806m) heißt der Berg, den wir Spitzkehre für Spitzkehre erklimmen. Es ist fast windstill. Am Gipfel genießen wir Brotzeit und Ausblick gleichermaßen. Schokolade und ein Schluck vom Whiskey aus dem Skitouren-Flachmann, dazu der tiefblaue Isfjord, an dessen Ende der zerklüftete Gletscherbruch des Øksfjordjøkelen. Die Tage im April sind nördlich des 70. Breitengrades bereits sehr lang. Vom Vieksevárri erspähen wir noch so einige Kessel und Flanken, die wir heute noch mit unseren Spuren verzieren möchten. Abfahrt, Aufstieg, Abfahrt, Aufstieg, immer der Nase nach. Es gibt diese Tage, an denen es schon den Sonnenuntergang und einen Hungerast braucht, um überhaupt irgendwann aufzuhören. Pulver in den Nord- und West Expositionen, Firn in den Südhängen. Es ist bereits 20 Uhr, als wir jodelnd im letzten

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