UPPIE GO HOME stand in neongrüner Wandfarbe auf das Apartmenthaus geschrieben, dessen dritte Etage Nicole Beisel zwei Jahre zuvor gekauft hatte. Die 64-jährige Kunstsammlerin war gerade erst in Berlin angekommen, der erste Besuch seit Monaten, sie hielt ihren Rollkoffer in der Hand und ließ die Bemalung auf sich wirken. Die anderen Eigentümer hatten längst rechtliche Schritte eingeleitet. Dabei empfand Nicole den Ausdruck in diesen riesigen grünen Druckbuchstaben als betont naiv, beinahe als lieblich, so als hätte jemand in der Schriftart Comic Sans als Vandale versucht. Wer auch immer für diese Aktion verantwortlich war, konnte kaum wissen, dass Nicole ihre hellen Zimmer am Rande des Tempelhofer Flugfeldes in all den Monaten, die sie nicht in Berlin verbrachte, armen Künstler:innen und bedürftigen Familien mietfrei zur Verfügung stellte, solange nur die Wohnfläche besenrein hinterlassen wurde. Nicole ließ sich das Wort Yuppie von ihrem Assistenzsystem BonnyUniversal erläutern, das sich gerade europaweit durchsetzte. In den Achtzigerjahren schien sich der Begriff Yuppie – young urban professional – ausschließlich auf Männer zu beziehen, die in klarer Abgrenzung zu den Hippies aus den Jahrzehnten zuvor großen Wert auf finanziellen Erfolg und Statussymbole legten. Später soll es auch weibliche und non-binäre und transsexuelle Yuppies gegeben haben, und gemeint konnten zudem Personen sein, die überhaupt keinen Wert auf Statussymbole legten, sondern lediglich als reich gelesen wurden. Im zurückliegenden Kalenderjahr, erklärte BonnyUniversal, erfreue sich der Begriff wachsender Beliebtheit, wahrscheinlich wegen seines Klangs. Nach dieser neuesten, durchaus unscharfen Definition, dachte Nicole nun, war sie vielleicht schon eine Yuppie. Als Haupterbin von Perla Premium – der Limonadenfirma ihres Vaters, die sie zu einem guten Zeitpunkt verkauft hatte – verfügte Nicole über ein beträchtliches Vermögen, sie sammelte Kunst und sah für das Alter von 64 beeindruckend jung aus, auch wenn sie das über sich selbst nie gesagt hätte. Obwohl grüne Farbe über einige der Kameralinsen gelaufen war, öffnete sich die Gebäudetür per Gesichtserkennung. Kurz wunderte sich Nicole, dass sie im dritten Stock nicht begrüßt wurde, bis ihr einfiel, dass sie den Audio-Assistenten während ihres letzten Aufenthalts abgeschaltet hatte. Sie vermisste ihn jetzt. Ihr Wohnraum war von der kolumbianischen Bildhauerin Valentina und ihren drei Söhnen makellos hinterlassen worden. Nicole fand es fast zu sauber. Sie glaubte, dass es gesünder war, sich regelmäßig Schmutz auszusetzen, als sich ständig pedantisch davor zu schützen. So war sie aufgewachsen, so war sie fit geblieben. Nur die grünen Großbuchstaben M und E, die spiegelverkehrt auf Nicoles Fenster prangten, warfen einen Schatten aufs Linoleum, der wie eine Unreinheit wirkte. Die leicht eingeschränkte Aussicht auf das Flugfeld mit seinen Baumgruppen und Sportanlagen empfand Nicole nun als besonders feierlich. Im Gruppenchat der Eigentümergemeinschaft wurden verschiedene Angebote zur Beseitigung der Schmiererei diskutiert. Nicole beteiligte sich nicht an der Diskussion, was ihr sicherlich als überheblich ausgelegt würde. Dabei wusste sie schlicht noch nicht, ob sie die Farbe überhaupt beseitigen wollte. Nicoles Berlinbesuche bestanden in der Regel aus diversen Treffen mit Künstler:innen, deren Arbeit sie faszinierte. Und diese Menschen, die alle gerne von sich erzählten, hatten immer Zeit für ihre Sammlerin Nicole. Ihrem Neffen Ben hatte sie für diesen Besuch versprochen, sich eine Gruppenausstellung in der neuen Kunsthalle Britz anzusehen, weil ein enger Freund ihres Neffen an dieser teilnahm. Auf dem Weg zum Taxistand bewegte sie sich in ihren weißen Running Shoes auffällig schnell – jeder musste ahnen, dass sie in Eile war – und wurde dennoch aufgehalten. „Interessieren Sie sich für die Befreiung?“, fragte ein Mann, den Nicole auf ihr Alter schätzte. „Für die Befreiung von was?“, wollte sie wissen. Nicole wäre nach einer solchen Ansprache in neun von zehn Fällen einfach weitergegangen. Doch der Mann, dessen Stimme ruhig und vornehm klang, war ihr merkwürdig sympathisch. Die KI-Phobiker, die sich mittlerweile an einigen öffentlichen Plätzen versammelten, wirkten in der Regel sehr viel bitterer und humorloser. „Ich vermute stark, dieser Flyer ist als Kunstaktion zu verstehen“, sagte Nicole und nahm das farbige Flugblatt entgegen, das ihr der Mann lächelnd entgegenstreckte. Und dann musste sie wirklich weiter. ie selbstfahrenden städtischen Taxis waren in Berlin sämtlich eierschalenfarben, was in Nicole nostalgische Gefühle weckte. Sie setzte sich wie immer nach vorn. Dass sie sehr akkurates Hochdeutsch sprach, fast wie eine Schauspielerin ihrer Generation, erleichterte die Spracheingabe. Auf der übergroßen Display-Armatur wurde eine Karte Berlins eingeblendet, der Zielort war markiert – Kunsthalle Britz –, und schon setzte sich das Taxi summend in Bewegung. Ein anderes selbstfahrendes Taxi kam auf sie zu, darin lachende Jugendliche mit Bierflaschen, die beiden Taxis begrüßten sich mit Lichthupen und fuhren auf der schmalen Straße verlangsamt aneinander vorbei. „Musik?“, stand als Frage auf dem Display. „Danke, nein, ich versenke mich lieber in diese VerY LEIF RANDT Geboren 1983 in Frankfurt am Main. Er gilt als Vertreter einer neuen Generation der Popliteratur. Sein neuer Roman „Let’s talk about feelings“ erschien im September. 2026 kommt die Verfilmung seines Bestsellers „Allegro Pastell“ ins Kino. D 115 THE RED BULLETIN
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