40 PROJECTION Bergstolz Ski & Bike Magazin • 01 |2024 Wir kreuzen ein flaches Tal und bewegen uns über den windgepressten Altschnee auf eine Reihe alter Seilbahnstützen zu, auf riesigen Betonfundamenten vor sich hin rostend und ihrer Aufgabe entledigt. Die leeren Rollenbatterien sind ein ungewohnter Anblick. Sie hätten beinahe den Anschein eines vorübergehenden Zustands wecken können, schienen honungsvoll zu beteuern, jederzeit wieder einsatzbereit zu sein. Warum sonst hätte man sie hier stehengelassen? Nach einigen zurückgelegten Höhenmetern liegt vor uns eine umgestürzte Liftstütze in der Landschaft. Beinahe andächtig legen wir eine Pause ein. Eingehend wird der eingeknickte Fuß des Stahlkolosses inspiziert. Vor meinem inneren Auge kontrastiere ich die dystopische Szene, die sich uns bietet, mit dem allzu bekannten Bild einer vollen Talabfahrt. Ich mutmaße, wo genau die Piste verlief, versuche mir in dieser Einsamkeit den Trubel vorzustellen, der diesen Ort vor einigen Jahrzehnten beherrscht haben muss. Hier, in den Ruinen des alpinen Wintersports, erahnen wir eine Schnittstelle, einen gemeinsamen Nenner zwischen dem Vergangen und dem Zukünftigen. Diese Orte stecken zwischen den Zeiten fest. Sie konservieren die Vergangenheit und dabei gleichzeitig ihre Vergänglichkeit. Inmitten des fortlaufenden Zeitgeschehens verblassen solche Artefakte und Orte langsam, verschwinden und geraten in Vergessenheit. Unser zentrales Anliegen bei diesem Projekt war es, die einzigartige Ästhetik dieser Orte zu zeigen, die Eindrücke zu verarbeiten und bewusst dem Prozess der Vergänglichkeit entgegenzuwirken. Mein Blick richtet sich langsam auf die ursprünglich grün-gelb gestrichene Liftanlage, die über die Zeit hinweg von einem rot-braunen Rostschleier eingenommen wird. Der Rost, als stiller Chronist jahrelanger Inaktivität, verweist unverkennbar auf den Stillstand. Vor dem Fenster mit dem verblassten Schild (Ticketschalter) scheint, als stehe die Zeit still. Innehaltend stelle ich mir vor, als jedes Ticket an den Beginn eines winterlichen Abenteuers markierte. Dieser Ort gibt nur noch wenigen Menschen einen leisen Verweis auf die vergangenen Momente. Im Inneren verdeckt ein Teppich, aus vergilbten Broschüren, Aufklebern und aufgequollenen Ticketbündeln, wie ein Mosaik, den darunter liegenden Boden. Mein Blick wendet sich einem dahinrostenden Ski zu, dessen Belag nahezu komplett abgelöst daneben liegt. Der Zeit überlassen klemmt ein Skischuh darunter. Ein Sammelsurium von Erinnerungen, von Staub und Verfall bedeckt. Rund 45 Prozent - 222 Skigebiete und Talllifte - der Schweiz mussten bereits schließen, sagt Professor Christoph Schuck, welcher sich mit seinem Team an der Technischen Universität Dortmund mit verlassenen Skigebieten (Lost Ski Area Projects) beschäftigt. „Ich habe nicht den Eindruck, dass die Schweiz eine höhere Dichte an verbliebener LSAP-Infrastruktur hat als andere Alpenländer“, hält Schuck fest. Nach weiteren Recherchen kommen wir auf eine Anzahl von über 600 geschlossenen Skigebieten im Alpenraum. Eine ernüchternde Zahl. Verlassene Skigebiete sind nur einer von vielen Zeugen eines Wandels. Die Wissenschaft bestätigt weitreichende und rasche Veränderungen in der Atmosphäre, den Ozeanen, der Kryosphäre und der Biosphäre. Die vom Menschen verursachte Klimakrise wirkt sich bereits auf viele Wetter- und Klimaextreme in allen Regionen der Welt aus. Vor allem im globalen Süden häufen sich Dürreperioden, Hitzewellen und Extremwetterereignisse. Man denke nur an die 50 Grad Celsius in Pakistan und Indien im letzten Sommer, unter dessen Folge 220 Menschen starben. Doch auch wir im globalen Norden bleiben von den Auswirkungen nicht verschont. Im Ahrtal mussten im Juli 2021 insgesamt 189 Menschen ihr Leben lassen, 17.000 Menschen verloren dabei ihr Eigentum. Was oft als Jahrhunderthochwasser in den Medien benannt wurde, sind in Wahrheit bereits jetzt spürbare Auswirkungen von einem menschenveränderten Klima. Die International Cryosphere Climate Initiative zieht Ihre zuletzt erschienene Publikation „State of the Cryosphere 2023 - Two Degrees Is Too High” ein ernüchterndes Resümee über die Kryosphäre. Die Kryosphäre umfasst alle Teile der Erde, die aus gefrorenem Wasser bestehen. Darunter alle Formen von Eis, einschließlich Gletscher, Schnee, Eisberge, Eiskappen, Permafrost und Meereis. Die heutige Erwärmung von 1,1°C gegenüber der vorindustriellen Zeit führt bereits zu einem massiven Rückgang des arktischen und antarktischen Meer-
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