Bergstolz Issue No. 44 - page 40

Seite 40 | BERGSTOLZ Ski Magazin Dezember 2013
EISSEE
Diese Geschichte erzählt von dem Abenteuer, die Bergwelt vor der eigenen Haustür zu erkunden und fernab der Zivilisation
den Puls der Berge zu spüren. Eine Reise in der Heimat, während der das fantastische Gefühl von Natur und sportlichem
Rausch erlebt und geteilt werden konnte. Eine Geschichte über den etwas anderen WG-Ausflug.
Wie so oft kommen Ideen für ein Projekt nicht immer aus logischen Gedankengängen, sondern entste-
hen durch das Teilen von Eindrücken und Erlebtem. Dieser Prozess ist oft lang und wächst stetig. Wir,
Anna, Michi, Marvin, Kim, Valle, Eric und Jojo haben ihn erlebt. Seit Jahren sind wir Freunde. Nach einer
Jugend im Allgäu haben wir uns auf dem Planeten verteilt. Auf Reisen, beim Studieren, beim Sporteln
oder sonst wo - immer auf der Suche nach eindrucksvollen Erlebnissen und Begegnungen. Im Sommer
2012 fanden alle ins Allgäu zurück. Wir zogen zusammen in ein altes Bauernhaus. Die
Anfangseuphorie erlaubte uns viele gemeinsame Bergtouren – ob zu Fuß, mit dem Rad oder auf Ski.
Die gleichen Interessen schufen die Basis für unser Eissee Projekt. Da der Winter schon vor der Tür
stand, war klar, es sollte ein Skitourenprojekt werden. Dabei spielten zwei Elemente eine zentrale Rolle:
Erstens - wir wollten die Welt vor der eigenen Haustüre neu entdecken. Zweitens - eine Tour planen,
welche ausschließlich aus eigener Kraft realisiert werden konnte. Der daraus resultierende Gedanke
war, das Terrain unterhalb des Rauhecks, das wir bis dato nur vom Sommer kannten, auch im Winter
zu entdecken. Also ging
´
s zur Vorbereitung mit Ski und Fotoequipment auf Tour. Der lange Talanstieg
erschwerte unsere Entdeckungen, aber als wir endlich auf der Höhe des Eissees ankamen, trauten wir
unseren Augen kaum. Was für eine Bergkulisse, die scheinbar endlosen Hänge und Varianten der
umliegenden Berge ein Paradies zum Freeriden. Hier war er, der perfekte Spot. Somit war das Projekt
Eissee geboren.
Die Vorbereitungen liefen sofort auf Hochtouren! Gemeinsam verständigten wir uns, was an benötig-
tem Material vorhanden war, was noch gebraucht wurde und wer sich um was kümmern würde: Zelte,
Schlafsäcke, Solarpanels, sowie die restliche Ausrüstung, die für ein Basislager im Schnee unabdingbar
ist. Leider machte uns in den darauffolgenden Wochen immer wieder das Wetter oder die angespann-
te Lawinensituation einen Strich durch die Rechnung. So verging Woche um Woche. Langsam schien
die Zuversicht in der Gruppe zu schwinden, es diesen Winter noch realisieren zu können. Doch Marvin
und Jojo zogen trotz mäßiger Wettervorhersage und zurückliegenden heftigen Schneefällen zu einer
finalen Erkundungstour los. Das Resultat nach einem extrem langen, harten Tag: Es ist machbar! Die
Lawinensituation sowie das bevorstehende Wetter ließen einen Aufstieg für mehrere Tage zu. Wir mus-
sten jedoch unseren ursprünglichen Campingplatz auf ein tiefergelegenes Plateau verlegen. So nutz-
ten wir die letzte Gelegenheit und beschlossen schon am nächsten Morgen zu unserem Abenteuer auf-
zubrechen. Gemeinsam, bis ein Uhr nachts, haben wir alles zusammengepackt was gebraucht wurde.
Keiner von uns hatte bis dahin auch nur einen Teil seiner persönlichen Ausrüstung hergerichtet.
Niemand war darauf gefasst, um 4 Uhr früh aufzustehen, sich in Skiklamotten aufs Fahrrad zu setzen
und ins Abenteuer zu stürzen.
Nach der kurzen Nacht quälten wir uns aus unseren Betten, nahmen ein letztes ausgiebiges Frühstück
am WG-Küchentisch zu uns und träumten bereits von den fertig aufgestellten Zelten und einem
Abendessen in den Bergen. Anschließend schlüpften wir noch in die Skischuhe, mit dem
Hintergedanken, sie die nächsten vier Tage vermutlich kaum auszuziehen und schwangen uns auf die
Räder. Eine ausgeklügelte Konstruktion erlaubte es, die Materialpulkas als Fahrradanhänger zu ver-
wenden. Diese waren die Transportmittel für Kameraequipment, Campingausrüstung, Verpflegung und
Bergsportgeräte. Von unserer Haustür ging es erst einmal etwas bergab. Leider, wie wir fanden, viel zu
kurz. Von Fischen bis Oberstdorf mussten wir erstmals in die Pedale treten. Die verwunderten Blicke
der Menschen, an denen wir vorbeifuhren, ließen uns innerlich schmunzeln. Denn die Gewissheit, dort
oben sicherlich keinen Menschen zu treffen, bestärkte uns in unserem Vorhaben. Die Emotionen, die
in uns hochkamen in die nahe gelegene Einsamkeit loszuziehen, waren für alle eine wunderschöne
Erfahrung!
Jetzt war der Spaß aber erst einmal vorbei. Denn von Oberstdorf bis ans Oytalhaus ging es Kilometer
für Kilometer mal mehr, mal weniger, steil bergauf. Skischuhe, große schwere Rucksäcke mit Ski daran
und die Pulkas am Bike, fielen definitiv als bevorzugtes Bikeequipment bei allen durch. Geschwitzt,
geflucht, angehalten Bilder & Aufnahmen gemacht - so ging der halbe Vormittag im Flug vorbei. Die
Laune war trotz all der Anstrengung super. Die wunderschöne Allee kurz vor dem Oytalhaus vermittel-
te uns das Gefühl, in einemWintermärchen zu sein. Die glitzernden Schneekristalle in der frischen Luft,
die überzuckerten Bäume, umgeben von riesigen Bergformationen waren die erste wirkliche
Belohnung des Tages.
Am Oytalhaus sattelten wir um, ließen die Bikes zurück, um endlich die Ski vom Rücken nehmen zu
können. Eigentlich waren wir schon auf dem Sprung, als der Hüttenwirt auf uns zukam. ,, Griaßt euch!
Woll`ad dir it no a gscheite Brotzeit, bevor nauf goat?“ Wir blickten uns gegenseitig an. „Mh scho, äh
ja, sehr gern!“ Es fiel uns jedoch schwer mit vollem Bauch von der sonnenüberfluteten Terrasse auf-
zubrechen, aber zu zweit an jeder Pulka ließ sich die Strecke durch das tief verschneite Tal recht gut
meistern. Der Weg führte uns immer entlang eines kleinen, leise rauschenden Bachs, vorbei an Fichten
und Latschen, immer tiefer in die abgeschiedene Bergwelt des Allgäuer Hauptkamms. Die Gruppe spür-
te, dass Valle durch seine Krankheit in den letzten Wochen sehr viel Kraft verloren hatte und er abso-
lut am Limit war. Jeder von uns nahm ihm etwas an Gepäck ab, um ihn so gut es ging zu entlasten.
Dass wir wirklich ein Team waren, spürte jeder einzelne von uns schon in den ersten Stunden.
Mit der Zeit wurde der Aufstieg immer steiler und die Sonne, für die sonst jeder dankbar ist, erschien
uns kräftezehrend. Auf ca. Zweidrittel der Strecke liegt ein imposanter Wasserfall, der uns zu einer kur-
zen Pause einlud. Trinken, Ski ausziehen, sich endlich mal ein paar Minuten in den Schnee fallen las-
sen, entspannen, das beste Gefühl, was man sich nach den Stunden der Schufterei vorstellen konnte.
Die meisten nutzten die Zeit um Kräfte zu sammeln, doch Kim und Marvin waren der Meinung, dass
der beste Energieschub wohl aus dem eiskalten Wasser unterhalb des Stuibenfalls kommt. So schnell
konnten wir gar nicht schauen, wie die beiden splitterfasernackt im Bach waren. Anschließend gelang-
ten wir im Nu auf das Plateau an der Käseralpe. Den perfekten Platz für das Camp hatten wir schon
ausgespäht, doch an Beine hochlegen war noch lange nicht zu denken. Mittlerweile war es 16 Uhr. Wir
teilten uns in Arbeitsgruppen auf, die einen stampften den Boden für die Zelte, andere kümmerten sich
umWasser. Unser Zimmerer, alias Küchenmeister Kim, hatte sich schon zu Hause einen Plan für die per-
fekte Sterneküche zurechtgelegt. Mit Lawinenschaufel, Pulka als Windschutz und einem mitgebrach-
ten Brett zauberte er eine wunderschöne Küchenzeile, bestückt mit 2 Benzinkochern, inmitten der
Bergkulisse. Wahnsinn. Inzwischen wurden die Zelte aufgestellt und eingerichtet, jeder packte da an,
wo noch eine Hand zum Helfen gebraucht wurde. Der erste lange Tag neigte sich dem Ende zu. Die
Sonne sank langsam ab und hüllte die Berge in ein sanftes Rosarot.
EISSEE
WOHNGEMEINSCHAFT IMSCHNEE
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