Die Rückkehr des „Ziegen-Königs“
Der aufbrausende Wind lässt die Haare auf den Unterarmen zu Berge stehen, die aus einem dicken, roten Oakley-Kapuzenpulli hervorragen. Der „Goat King“ von 2004 lehnt sich über seinen 580 mm Lenker, gekleidet in Baggy-Jeans und weißen High-Top- Schuhen. Er fokussiert den monströsen 10 Meter-Drop, der unmittelbar vor ihm lauert.
Die Möglichkeit zu scheitern ist allgegenwärtig, ein solcher Gedanke hat hier aber definitiv nichts zu suchen. Wir schreiben das Jahr 2005 und befinden uns beim Adidas Slopestyle im österreichischen Saalbach. Timo Pritzel, amtierender Träger des Style- Awards 2004 dieser Veranstaltungsserie, sitzt gerade auf dem größten Obstacle, der bis zu diesem Zeitpunkt je in einem europäischen Contest gedropped wurde. Eines steht fest: Landet er diesen Sprung nicht perfekt, so wird es ein anderer mit Sicherheit tun - schließlich tummelt sich die Crème de la Crème des Freeride-Sports auf der Startliste: Gracia, Berrecloth, Strait, MacCaul, Bourdon, Vanderham, Zink, ... Die Liste der Freeride-Giganten ist lang und alle versuchen sich an diesem furchteinflößenden „Leap of Faith“, wie viele den 10 Meter-Drop nannten, bevor es weiter geht mit einem Wall-Ride, einem Gap über eine Gondel und einigen Doubles bis ins Finish. Klar ist auf alle Fälle: Europäer zählen mittlerweile ebenfalls zur Slopestyle-Elite wie die bis dato dominierenden Amis, in diesem Fall dank des deutschen Riders Timo Pritzel.
„2004 konnte ich in Saalbach den Dirt Jam Style Award gewinnen und wurde zum ‚Goat King‘ gekrönt. Kurz darauf wusste ich warum, als mich die niedlichen Augen eines Baby-Geißleins anstrahlten. Und als sie den kleinen Bock auch noch nach mir benannten – ich war gerührt und sprachlos!“ – Timo Pritzel
Am Ende des Tages konnte Timo den Erfolg aus dem Vorjahr zwar nicht wiederholen, aber ihm brannte vielmehr die Frage unter den Fingernägeln, was denn aus seinem Vorjahres- Gewinn, dem Ziegenkitz, geworden sei. 2004 wurde Timo natürlich schnell klar, dass das hektische Stadtleben von Berlin mit der Aufzucht eines alpenländischen Tieres nicht unbedingt in Einklang zu bringen ist. Nach einem schmerzvollen Abschied folgte deshalb die Übergabe seines kurzweiligen Gewinns aus Fleisch und Blut an einen fürsorglichen Bauern aus Saalbach Hinterglemm. Obwohl Timo die nächsten Sommersaisonen immer wieder für Wettkämpfe nach Saalbach kam, verlor er über die Jahre den Kontakt zu seinem „Zögling“ und bald fristete die kurze Verbundenheit ein Dasein in Vergessenheit. Genaugenommen bis letzten Herbst, als Tibor Simai zu einem Treffen mit seinem lanjährigen Freund aufrief – will er doch das Backcountry hinter den gebauten Strecken von Saalbach Hinterglemm vor dem Wintereinbruch noch einmal mit einem guten Freund in Angriff nehmen.
Natürlich konnte Timo das Angebot nicht ausschlagen, zumal auch noch ein Funken Hoffnung in ihm schlummerte, seinen fast vergessenen, 4-beinigen Freund vielleicht doch noch einmal wiederzusehen. Zudem wäre das auch der perfekte Anlass um das All- Mountain-Bike seines neuen Sponsors ausgiebig zu testen und mit seinem Kumpel eine lässige Zeit zu verbringen. Jeglicher Zweifel an der Reise ins österreichische Saalbach Hinterglemm war verflogen – Die Zusage fiel ihm somit leicht von den Lippen. Die Freundschaft der Beiden geht übrigens sehr weit zurück – genau genommen ganze 26 Jahre. Tibor war nicht nur als Judge bei den damaligen Contests aktiv, als muskelbepackter Vorzeigeathlet der BMX Szene mit einigen Champions-Titeln und Vorbildfunktion für viel Nachwuchsbiker, war er auch für den jungen Timo Inspiration, um sich intensiver mit dem Thema Mountainbike auseinander zu setzen.
„Mit 18 traf ich Timo auf einem Schulausflug nach Berlin, als ich mir bei einer Raststation etwas zu Essen holte. Der kleine Kerl kam auf mich zu und fragte, ob ich der Tibor sei, der BMXer, und wir unterhielten uns eine Weile über Bikes und Rennen. Dieser kleine Junge war Timo. Ich denke es war 1989! Danach trafen wir uns öfters auf BMX-Veranstaltungen, traten sogar gegeneinander an. Es ist großartig, dass sich der Kontakt, trotz unterschiedlicher Karrieren und Plätze, festigte!“ – Tibor Simai. Einige Tage und einige Anrufe später fanden sich Timo und Tibor oberhalb der Baumgrenze im hintersten Eck von Saalbach Hinterglemm wieder. Es war frühmorgens, als sie an ihrem geplanten Ziel angekommen sind. Neben den beiden tummelte sich ein Rudel Gämsen, die auf die beiden Biker aufmerksam geworden sind. Nach kurzer Musterung, tranken sie genüsslich aus einem glasklaren Bergsee und verließen im Anschluss im verspielten Zick-Zack-Lauf das majestätische Hochplateau, wo sie sich gerade allesamt befanden.
Die Sonne bahnte sich ihren Weg immer mehr durch die beeindruckenden Erhebungen der Alpen und flutete das Tal mit einem intensiven Farbspiel, das sie erstaunen ließ. Das Spektakel war leider nur von kurzer Dauer, doch die beiden Profis wussten es wahrlich zu nutzen. Diese Seite der Bergwelt ist den wenigsten Bikern bekannt. Dazu bedarf es einen eisernen Willen frühmorgens aus den Federn zu kriechen. „Early bird“ eben. Diese österreichische Wildnis, die man hier vor Augen bekommt, ist es aber allemal wert. Die Wege wurden per Fuß geschaffen, seien es im Sommer die zahlreichen Wanderer, oder seit Ewigkeiten die Schafe auf den Almen. Dieser Kontrast zu den perfekt geshapten Park-Trails ist einzigartig und Balsam für die Seele zugleich nach einem Sommer in den vielen Bikeparks, die Europa mittlerweile zu bieten hat. Neo-Local Tibor zeigte auf Anhieb seine Affinität zu diesem Untergrund. Geschmeidig und kraftvoll spielte er mit der Strecke.
Timo zog ihm gleich. „Obwohl ich ein Stadt-Kind bin, liebe ich die Berge! Ich bin zwar als Dirt-Biker bekannt geworden, doch immer wieder stahl ich mich in die nächstgelegenen Wälder, um Cross-Country zu fahren, oder wie wir es heute zu sagen pflegen:
Enduro! Mir ist das wichtig, da ich in der Stadt lebe und eine Auszeit in der Natur bei mir Wunder wirkt. Öfters starte ich meine morgendlichen Runden vor meiner Arbeit als Yoga-Lehrer in Berlin, aber wir haben leider keine Berge. So ist eine Reise nach Saalbach, um mit meinem Kumpel Tibor die alpine Gegend mit dem Bike zu erkunden, eine wahrhaftige Wohltat.“ – Timo Pritzel
Ich denke er ist der Chef der Truppe. Als ich ihn dann aus dem Gehege für einen kleinen Spaziergang nahm, war es ein wenig einschüchternd. Es war wichtig, keine Angst aufkommen zu lassen und ihm von Anfang an klar zu zeigen, dass ich sein „Vater“ bin und ich denke er akzeptierte das auch so. Zum Schluss verglichen wir noch unsere Ziegenbärte. Wer gewonnen hat, braucht man glaube ich nicht genauer erörtern. Und das war’s – nach 10 langen Jahren dickem und vollem Bartwuchs endlich wiedervereint! Auch ohne einer DNA-Verifizierung lässt sich die augenscheinliche Zusammengehörigkeit von Timo und seinem 4-beinigen Freund festmachen. Dem Bart sei Dank! Auch zehn lange Jahre nach der Krönung zum „Goat King“ von Saalbach hält Timo’s Passion somit weiter an – vier Beine, 2 Räder und prächtige Bärte. Ride On!
Text: Bernhard Niederseer | Foto: Nathan Hughes
Infobox
GEBIET:
720 km Mountainbike-Netz in der Region
400 km markierte Mountainbike-Wege
Anbindung an den Tauernradweg
4 Bergbahnen für den Mountainbike-Transport (ca. 4000 hm)
Cross Country-Marathonstrecke bzw. Halbmarathon
SingleTrails,Downhill,Freeride,Dirt Park,North Shore,Trainings Parcours
Verbindung mit dem Bikepark Leogang
Viele bikefreundliche Hütten für die wohlverdiente Pause
Kostenlose Panoramakarte
3D-Bikekarte im Netz
Glemm Ride Bike Festival 7.-10.07.2016
UNTERKUNFT:
Bike n’Soul Hotels www.bike-n-soul.at
Hotel Sonnleiten, Saalbach www.sonnleiten.com
Spielberg Haus, Saalbach www.spielberghaus.at
Camping Glemmerhof, 5752 Viehhofen
www.saalbach.com | freeride.bike-circus.at | www.glemmride.at