Rausch im Kopf und rauschen unter den Füßen
Wenn sich kalte Luft aus Russland und feuchte aus dem Atlantik übers Kreuz kommen, knallen mancherorts bereits die Powder Korken. Ein Nordstau macht sich auf den Weg und entlädt seine Fracht entlang der ersten Barrieren der Nordalpen. Das ist der Moment, in dem die Social Media Kanäle wieder voller Glücksgefühle strahlen und die Community vor Vorfreude explodiert. Einfach herrlich, wenn es in die Nacht hinein schneit und man mit der neugierigen Unruhe eines Kindes an Weihnachten einschläft. Ich entführe euch heute in eines dieser Mancherorts: auf den Spielberg in Fieberbrunn. Dieser bildet nämlich die erste wirkliche Barriere, wenn ein Nordstau wütet, und ist maßgeblich für den Ruf der Region als Schneeloch verantwortlich.
Als in den 90er und Anfang der 00er-Jahre die Snowboard-Szene während des Lords of the Boards Festivals das kleine Dorf in Tirol durchgelüftet hat, machte sich ein Hauch von Jugendkultur breit. Einmal im Jahr kam die internationale Elite und hat ihren Lifestyle vor den Augen der staunenden Einheimischen zelebriert. „Ein Wahnsinn, mit welcher Leichtigkeit diese Mädels und Jungs durchs Leben gehen. Das will ich auch“, dachte ich als naives Kind in viel zu großen Etnies Schuhen und Baggypants. Meine Leidenschaft für das Brett war geboren. Es sollte zwar noch eine Weile dauern, bis ich es mit der Anziehung vom Spielberg kombinieren konnte, aber Gut Ding braucht eben Weile und deshalb…
…zurück zur Barriere. Wie der Spielberg zu seinem vielsagenden Namen gekommen ist, wird wohl ein Geheimnis bleiben. Schwer vorstellbar, dass die Namensgeber unseren Blick auf das Nord-West Face im Sinn hatten. Wahrscheinlicher wäre wohl eine spät abendliche Karten-Runde in einer Alm mit „Haus und Hof Einsatz“. Aber das ist reine Spekulation. Und hat nichts damit zu tun, dass der Spielberg seit Jahrzehnten Menschen anzieht und lokalen Pionieren wie Christian Pletzenauer die Tür in diese Welt geöffnet hat, wenn auch dazumal noch auf zwei Brettern. Es ist nicht verwunderlich, dass aus einer anfänglich leichten Anziehung mit den Jahren eine Sehnsucht entsteht, die einen nicht mehr loslässt, wenn man Tag für Tag auf diesen eindrucksvollen Berg starrt und dabei immer neue Lines entdeckt.
Diesen Berg zu befahren ist jedes Mal an sich schon eine Genugtuung, aber da gibt es noch den Gedanken an diese eine Line direkt vom Gipfel, der sich wie ein Virus festgesetzt hat und sich einfach nicht mehr abschütteln lässt. Mit jedem Blick auf den Berg überschlagen sich meine Gedanken: „Geht das? Hmmm, müsste eigentlich schon möglich sein!“ Aber wissen kann man es erst, wenn man es versucht. Ich habe mir eine Erstbefahrung in den Kopf gesetzt. Ein Vorhaben, dass einem wahren Abenteuer gleicht, wenn man bedenkt, dass noch niemand zuvor diesen Versuch gewagt hat.
Auf der Suche nach dem „Warum“
Warum tun wir das eigentlich? Uns selbst in Gefahr zu bringen. Und weshalb finden wir ein gewisses Risiko vertretbar? Ich fühle bei meinem Abenteuer in mich hinein und höre ganz genau hin: Was hat es nur damit auf sich?
05.30 – Die Qual des ersten Schrittes
In den Tiefen der REM-Schlaf-Phase gibt es nichts Schlimmeres, als diesen verschis…. gemeinen Wecker schrillen zu hören. Da mag die Vorfreude noch so groß sein. Warum zur Hölle ist es so verdammt schwer, den Fuß auf den Boden zu stellen und den ersten Schritt in Richtung Bad zu gehen. Ein kluger Mann meinte mal dazu: „Der Geist ist willig, as Fleisch schwach“. Dennoch lasse ich meine Gedanken, einfach weiterzuschlafen, nicht siegen, denn ich habe heute etwas Besonderes vor. Die Bilder in meinem Kopf an den bevorstehenden Tag lassen mich nicht mehr los und so fällt das Aufstehen zunehmend leichter, wenn auch widerwillig. Prinzip Hoffnung ist auch dieses Mal reizvoller, als den Träumen weiter in der Horizontalen hinterherzujagen. Denn die Hoffnung darauf, dass es heute klappt, wiegt schwerer. Heute ist nicht mein erster Versuch. In den letzten neun Jahren waren es derer gleich fünf. Klappt es diesmal? Lohnt es sich? Oder wird es heute wieder einen Grund für einen Abbruch geben, wie die letzten paar Male? Man möchte meinen, bei so vielen Anläufen stellt sich eine gewisse Routine ein, aber die Fragen, die einem durch den Kopf gehen, bevor man in so einen Tag startet, sind dieselben und so bleibt es wohl auf ewig beim Kaltstart, der sich anfühlt, wie ein gut gefüllter Aschenbecher nach einer gelungenen Party riecht. Bescheiden.
06.00 – Fahrt der Hoffnung
Mit Thermobecher bewaffnet und in die wärmsten Klamotten eingepackt geht es Richtung Parkplatz, an dem wir unsere Splitboards in den Schnee werfen und noch mit müden Augen hinauf zum Gipfel blicken. Im März ist es zumindest schon hell und die Sonne lässt den Körper langsam wach werden. Das Ziel noch fern, aber fest vor Augen stellt sich in den Gedanken eine gewisse Polytonalität ein. Ein Wellenbad an Spannungsbögen, dass sich über die letzten neun Jahre immer wieder aufgebaut und mit einer Ernüchterung entladen hat. Eine Mischung aus Euphorie, Zweifel, Sorgen und positiver Anspannung. Eine Achterbahn der Gefühle, die sich nicht beruhigen lassen, bis sie bekommen haben, was sie wollen. Ist heute der Tag? Kommt heute alles zusammen? Klappt es diesmal? Oder fahren wir am Ende doch wieder enttäuscht über die bereits bekannte Abfahrt ab?
08.00 – Aufstieg ins Ungewisse
Der übliche morgendliche Talk verfliegt und auf den ersten Metern füllen sich die Lungen mit Luft. Die Stimmung entlang des Baches verzaubert uns und lässt uns im Moment, im Hier und Jetzt, sein. Wir nehmen die Umgebung intensiv wahr und erfreuen uns der Schönheit und Stille der Natur. Ab diesem Moment war der Weg das Ziel und das Gefühl der Euphorie – basierend auf Lawinenlage-, Wetterbericht, Erfahrung und Know-how – übernimmt das Kommando. Die Hausaufgaben sind gemacht, denn mein Handwerk verstehe ich. Jetzt muss es nur noch passieren, aber wie so oft liegt es nicht in meinen Händen. Das zu akzeptieren fällt schwer. Wenn es aber gelingt, ist es eine Befreiung vom Zwang des Müssens. Nach zwei Stunden Aufstieg ist der Kopf längst auf Autopilot, bis der Gipfel und die Line ins Blickfeld rücken. In diesem Moment überkommt einen wieder ein anderes Gefühl. Vater Zweifel is back und begleitet uns auf den letzten Metern bis zu unserem Ziel.
12.30 – Der Moment der Wahrheit
Am Gipfel angekommen. Die absolute Ruhe lässt einen verstummen, in die Ferne blicken und nach dem Hochkommen runterkommen. Tiefe Atemzüge lassen den Puls langsam in erträgliche Maße abflachen und die Konzentration hochfahren. Die Frage aller Fragen unterbricht die Stille. Zumindest in unseren Köpfen: Ist heute der Tag? Oder doch wieder eine weitere Episode des Traumes. Keiner da, der einem die Entscheidung abnimmt. Tiefe Atemzüge. Einige strategische Floskeln. Unzählige Faktoren und Gedanken fangen an, sich zu sortieren. Die Lage sieht gut aus. Am Ende steht die Überzeugung: Heute gehts los! Der Traum wird endlich Realität! Gewissheit.
13.00 – Die Ekstase
Der Fokus schärft sich und die letzten Bedenken verblassen. Vater Zweifel und Schwester Sorge bleiben hinter uns am Gipfel stehen. Euphorie übernimmt endgültig, als wir die ersten Meter bis zur Traverse fahren. Wow, es passiert wirklich! Diesmal ist es kein Traum! Dann der Blick in die Tiefe. Alles wirkt auf einmal selbstverständlich. Für eine kurze Zeitspanne verliert man sich in gedanklicher Schwerelosigkeit. Der Fokus lässt keinen Platz für negative Gefühle. Alles läuft automatisch ab, der Körper antizipiert, was kommt und übernimmt das Kommando. Er funktioniert und lässt uns diese wunderbaren Momente spüren und erleben. Die steile Einfahrt verfliegt in wenigen Sekunden. Mit jedem Meter verfliegt die Anspannung mehr und mehr. Bis sich langsam das Adrenalin in den Adern staut und mit einem lauten Schrei entlädt, der durch das Weiß der Berge hallt. Und genau deshalb tun wir es. Wir begeben uns selbst in Gefahr, um uns zu spüren. Die Monotonie des Alltags und alles Negative hinter uns zu lassen. Um das Leben auszukosten und für diesen einen Moment einfach mal im Hier und Jetzt zu sein. Das ist Freiheit. Denn viel gefährlicher wäre es, das Leben zu verpassen.