Wechselspiele | Oberlandrunde
Von der Isar an die Leitzach – in drei Tagen per Mountainbike durch die Bayerischen Alpen: über steile Steige, schweiß - treibende Schotterauffahrten und tolle Trails von Lenggries nach Bayrischzell. Zahlreiche Höhenmeter und Traumaussichten inklusive.
Text & Fotos: Quirin Stocker
So hatten sie sich das irgendwie nicht vorgestellt. Nicht so schön, zumindest. Und nicht so abwechslungsreich. Und leider auch nicht so nass: Es gießt in Strömen. Der Spitzingsee ist eine dunkle schwarz-braune Soße. Dabei ist er eigentlich ein Postkartenidyll. Aber nicht heute. Heute ist er eher eine Regenfalle. Was irgendwie auch wieder gut ist. So drängen sich wenigstens keine Touristenmassen über die Seepromenade oder in den Cafés, keine Spazier- Wanderer auf den Straßen. Ein ruhiger Freitag Nachmittag. Und die dunklen Wolken zwischen Aiplspitz, Taubenstein und Rotwand im Osten, Brecherspitz, Bodenschneid und Stümpfling im Westen sorgen dafür, dass es das auch bleibt. Tief hängen sie und entladen ihre feuchte Fracht konstant über dem dunklen See. Gut, dass Michi und Luis rechtzeitig einen Unterstand gefunden haben. Müde sitzen sie vor der alten Wurzhütte auf dem Gehsteig. Ihre verdreckten Bikes lehnen an der Holzwand. Irgendwie scheint die Welt gerade eine Pause zu machen. Nur vereinzelt vorbeifahrende Autos stören die Stille.
Still war es überhaupt bisher. Nur selten haben die beiden Freunde andere Menschen getroffen. Auch das hatten sie sich so nicht vorgestellt, als sie ihre Route durch die beliebten Münchner Hausberge geplant hatten. Drei Tage lang wollen sie per Mountainbike durch das bayerische Oberland radeln. Von Jugendherberge zu Jugendherberge. Vorbei an den schönsten Flecken, die die Berge zwischen Isar und Leitzach zu bieten haben. Denn die kennen sie bislang kaum.
Michi ist Allgäuer. Und bikeverrückt. „So wie meine ganze WG“, lacht er. Der 24-Jährige lebt mit sechs Kumpels auf einem Bauernhof in der Nähe von Bolsterlang. Alle sind vom Bikevirus infiziert, haben sogar einen kleinen Bikepark hinter dem Hof gebaut – zum Trainieren. Im Sommer arbeitet Michi als Bikeguide, führt Transalps und arbeitet in einem Bikeshop. Auch privat biket er am liebsten im Allgäu. Deswegen kennt er die Münchner Hausberge kaum – außer vom Skifahren. Luis hingegen stammt aus dem Würmtal, kennt Ruchenköpfe & Co. vom Klettern mit seinen Freunden oder seinem Vater, der Kletter-Fachübungsleiter ist. Aber mit dem Bike war Luis dort noch nicht unterwegs – doch das ändert sich jetzt. Das Biken hat er im Ausland entdeckt. Als Schüler in Kanada fuhr er für sein lokales Highschool-Team MTBRennen. Wieder zu Hause hat Luis sich ein eigenes Rad gekauft, das bald wieder in der Ecke landete – weil der 20-Jährige auf Weltreise ging. Jetzt ist er zurück und will wissen, ob er auch größere Strecken per Bike bewältigen kann.
Diese Neugier und diese Lust auf Abenteuer verbindet die beiden unterschiedlichen Charaktere. Michi hätte das bei einem Lawinenunglück in Kanada fast einmal mit seinem Leben bezahlt. Beim Auschecken einer Bowl in Revelstoke, BC, ist er mit einer Wechte abgestürzt. Hat sich mehrfach überschlagen und wurde teilweise sogar verschüttet – Handyempfang Fehlanzeige. Mit gebrochenen Wirbel und Ferse lief er acht Stunden in die Zivilisation zurück und überlebte. Glück gehabt. Jetzt soll es wieder eine große Anstrengung werden, aber diesmal ohne Lebensgefahr. Darum gehen die beiden Jungs gemeinsam auf Tour und erkunden drei Tage lang die Bayerischen Alpen – von West nach Ost, von Lenggries nach Bayrischzell.
Donnerstag Nachmittag, Hauptbahnhof München. Mit leichtem Gepäck und Bikes fahren sie mit der Bayerischen Oberlandbahn nach Lenggries. In der komplett renovierten, gemütlich modernen Jugendherberge wollen Michi und Luis die Nacht verbringen, bevor sie früh morgens losradeln. Dafür müssen sie vor Ort allerdings erst im Jugendherbergswerk Mitglied werden. Denn auch die anderen Nächte wollen sie in Jugendherbergen verbringen. Nachdem die beiden Bikes im Radlkeller verstaut sind, und die Jungs ihr Zimmer bezogen haben, zieht es sie in den gemütlichen Speisesaal. Es duftet nach Karamell – der Kaiserschmarrn lockt in die Küche. Und so gönnen sich die Zwei zuerst frische Vitamine vom Salatbuffet, dann eine Kartoffelsuppe und anschließend eine ordentliche Portion der Mehlspeise. Schließlich wollen morgen 1700 Höhenmeter und 50 Kilometer nach Josefsthal am Schliersee bewältigt werden. Bevor die beiden allerdings ins Bett hüpfen, lockern sie noch schnell ihre Gliedmaßen und kurbeln ihre Verdauung an: Michi zockt Luis ein paar Sätze lang im Tischtennis ab. Die Nacht ist ruhig, von den drei Schulklassen aus Weilheim und Bruchsal hört man nicht viel, vom Regen leider schon …
Dementsprechend wenig Laune auf Biken macht das Wetter am nächsten Morgen: Dauerregen, grau in grau. Da sorgt auch die Prognose nicht für Aufheiterung. Also wird der Start verschoben und das Frühstück entsprechend ausgedehnt. Was beiden nicht schwerfällt, angesichts des reichhaltigen Angebots. Um zehn Uhr ist es endlich soweit: Der Regen hat aufgehört, es ist nur noch bewölkt. Herbergsvater Uwe Siebrich wünscht Michi und Luis eine gute Reise: „Und grüßt mir den Stefan Jobst in Josefsthal…“, gibt er ihnen noch mit auf den Weg. Dann rollen sie in ihren Regenjacken davon in Richtung Seekarkreuz. Durchs dampfige Hirschbachtal geht es anfangs die gemächliche, später steile Schotterstraße bergauf. Am Hirschtalsattel ist für Michi und Luis das erste Etappenziel noch nicht ganz erreicht. Während eine Gruppe Biker Pause macht, bevor sie den Trail durch den Stinkergraben hinabfährt, müssen Luis und Michi noch weiter bergauf. Bis zum Sattel kurz unterhalb des Seekarkreuzes – mit Blick auf die einsame Rauhalm, an der die rasante Abfahrt vorbei führt. Spätestens nach der Furt dort wird klar, dass heute kein Auge und schon gar keine Jacke trocken bleiben wird. Was als Wasser nicht von oben kommt, findet als Dreck und Kuhmist von unten seinen Weg auf Mensch und Material.
Im Tal gilt es noch den von einem kleinen Rinnsal zu einem „echten“ Bach angeschwollenen Gurnbach zu überqueren – gar nicht so leicht ohne Steg oder Brücke. Aber auch diese Herausforderung meistern die beiden Abenteurer. Im Söllbachtal haben sie sich ihre Pause auf der Schwarzentennalm wohl verdient: Serviert werden Kasknödel auf Kraut – inklusive Wartezeit. Denn die andere Biker-Gruppe hat inzwischen auch den Weg herauf gefunden. Doch das Warten lohnt sich, denn das Essen ist phänomenal. Und die Kraft brauchen die zwei Jungs auch. Für den nächsten Anstieg zum Leonhardstein – dem Wahrzeichen über Kreuth – und dem anschließenden Trail hinab. Ein abwechslungsreicher Ride durch hohe Farne und über anspruchsvolle Wurzel-Stein-Passagen, bis man schließlich oberhalb der Kreuther Kirche im Tal anlangt. Michis Grinsen spricht Bände, Luis aufgeschlagene Beine auch – seine gekonnte Japaner-Rolle über den Lenker hat Schlimmeres verhindert. Gemütlich fahren die beiden Voralpendurchquerer nun weiter bergab an der Weissach entlang und um den Wallberg herum. Ab Enterrottach meldet sich ein alter Begleiter wieder: Das schlechte Wetter schiebt sich über den Stümpfling und mahnt zur Eile. Dank Teerauf- und -abfahrt über Moni- Alm und Valepp ist die Albert-Link-Hütte kurz vor dem Spitzingsee bald erreicht …
Droben am See startet der Wolkenbruch. Eigentlich passt Michi und Luis diese Zwangspause nicht so recht ins Konzept. Lieber wären sie den Trail hinunter nach Josefsthal noch gefahren, so lange er trocken war. Außerdem wollten sie längst in der Jugendherberge angekommen sein. Das Abendessen und eine warme Dusche warten. Stattdessen sind sie nun hier gefesselt. Gegenüber der alten Wurzhütte, am Schlagbaum in die Valepp. Nebenan speit eine Regenrinne das Wasser in hohem Bogen auf die Straße. Na bravo. Michi zückt das Telefon. Er gibt Stefan Jobst, dem Herbergsleiter in Josefsthal, kurz Bescheid. Zuvor hatte er keinen Empfang: „Ja servus, wir sitzen hier oben am Spitzingsee im Regen fest.“ Die Anwort verblüfft ihn: In Josefsthal sei kein Tropfen vom Himmel gefallen. Gut so. Der Trailabfahrt steht also nichts mehr im Weg. Wenn es nur endlich aufhören würde, zu regnen. Zwanzig Minuten später ist es soweit. Kein Rundweg um den See, keine Zeit. Auf der Hauptstraße radeln die beiden zum Spitzingsattel und hinunter bis zum Ende der gesperrten Wiese. Erst hier ist die Abfahrt über den Trail per Bike erlaubt. Anspruchsvoll schlängelt sich der Pfad durch den Wald und fordert noch mal volle Konzentration. Vorbei an den Josefsthaler Wasserfällen, die Michi und Luis nicht mehr allzu vieler Blicke würdigen.
Um Punkt sieben Uhr – gerade noch rechtzeitig zum Checkin – kommen sie trocken, müde und total verdreckt bei Stefan Jobst an.
„Die Jugendherberge ist eine der ältesten in den bayerischen Alpen“, sagt Stefan Jobst, als er sich nach dem Essen zu den beiden frisch geduschten Jungs in die Liegestühle hinter dem Haus setzt. Das sieht man ihr nicht an. Denn das Haus ist sauber, gemütlich und versprüht einen gewissen Charme. Besonders angenehm ist der beruhigende Bachlauf an dem die Drei gerade sitzen. Stefan Jobst weiß, was seine Gäste schätzen. Schließlich macht er seinen Job schon seit über zwanzig Jahren. Liebevoll kümmert er sich um die Bedürfnisse seiner großen und kleinen Gäste. Nur das Radlabspritzen hat er ihnen dankend überlassen: „Putzen müsst ihr schon selbst, aber Wasser und Schlauch bekommt ihr gern von mir!“, lacht er. Die vor Dreck stehenden Bike-Klamotten stecken Michi und Luis in die Waschmaschine und anschließend in den Trockner – so kann es am nächsten Morgen blitzeblank weitergehen.
Zum Warm-Up steht die Spitzing-Passstraße an, gut 300 Höhenmeter mit konstanter Steigung auf Asphalt, bevor Michi und Luis im Morgenlicht um den See radeln. Die heutigen Höhenmeter fahren sie fast an einem Stück – auf der beliebten Familienwanderung zum Rotwandhaus. Dementsprechend voll ist es auf dem Wanderweg. Kein Wunder: in gerade einmal 1,5 Stunden bietet die Rotwand tolle Fernsicht in die Alpen und das Rotwandhaus nur einige Kehren tiefer bestes Essen. Allerdings wieder mit Wartezeit. Die Auffahrt ist anstrengend, die Jungs haben noch die gestrigen Höhenmeter in den Beinen, aber sie sind flott unterwegs, überholen Biker und Wanderer gleichermaßen. Man könnte fast meinen, die Tragestrecke hinter dem Rotwandhaus hinab zur Großtiefental-Alm lockte, wüsste man es nicht besser … Schließlich sind die Steige dort hinab für Radfahrer gesperrt. Doch nach der Stärkung auf dem Rotwandhaus sind auch diese 500 Höhenmeter kein Problem – obwohl Michi viele davon lieber gefahren wäre. Von der Alm zum Soinsee rollen beide gemütlich – für ein Bad war der sonnige Bergsee leider noch viel zu kalt. Von dort folgen die beiden Durchquerer der steilen Schotterstraße bergab und freuen sich diebisch, dass sie hier nicht hinaufstrampeln mussten. Unten angekommen resummiert Michi: „Das ist sinnloses Höhenmetervernichten – ganz ohne Trail.“ Luis scheint es gefallen zu haben, er grinst fröhlich in sich hinein. Entspannt folgen die beiden gemütlich der Leitzach flussabwärts bis nach Bayrischzell, bevor sie die letzte Etappe hinauf zur Jugendherberge Sudelfeld in Angriff nehmen. Schnell soll es diesmal vor allem gehen, es ist schon Nachmittag. Also entscheiden sie sich für die bei Motorrad- und Autofahrern beliebte Tatzelwurm-Passstraße. Und werden von ihnen bis hinauf zum Parkplatz an der Jugendherberge „dankbar“ beschallt.
Droben wartet schon Mike Sebrich, der Herbergsleiter – und selbst Mountainbiker. Als er die neuen Räder sieht, juckt es ihn in den Händen. Spontan lässt er sich zu einer Wheelie-Runde vor seiner Herberge hinreißen. Um gleich danach zu verschwinden und mit einer frisch eingeschenkten Maß Radler für Michi und Luis wieder zu erscheinen. Als hätte er es geahnt. Bei Sonnenschein, heißen Temperaturen und willkommener Abkühlung – von innen dank Radler und außen dank Wasch- und Badetrog – lässt sich der nachmittägliche Ausklang der Tour gut an. Und wenn der Blick nach Osten über das Sudelfeld hin zum Wilden Kaiser schweift, wissen Michi und Luis, dass sie noch viele Möglichkeiten haben, ihre Drei-Tage-Durchquerung zu verlängern. Aber bevor sie am nächsten Morgen über die Skiabfahrt zurück zur Bayerischen Oberlandbahn nach Bayrischzell radeln müssen, genießen sie erst einmal die letzten Sonnenstrahlen auf der Hausterrasse und die herrlichen Wechselspiele von Sonne, Wolken und Bergen.
Unterkünfte:
Entgegen der landläufigen Meinung dürfen auch Erwachsene in Jugendherbergen übernachten. Einzige Voraussetzung ist die Mitgliedschaft im Jugendherbergswerk. Kosten Pro Jahr: 21 Euro (Erwachsene ab 27 Jahren und Familien), bzw. 12,50 Euro für Junioren. Detaillierte Übernachtungs-Preise, Öffnungsund Checkin-Zeiten unter www.jugendherberge.de. Übernachtungen im Mehrbettzimmer mit Frühstück kosten zwischen 20 und 25 Euro. Halbpension meist 5-10 Euro mehr.
Jugendherberge Lenggries Uwe Dietrich | Jugendherberge Schliersee Stefan Jobst | Jugendherberge Bayrischzell-Sudelfeld Mike & Angie Sebrich |
Anreise:
Die Bayerische Oberlandbahn fährt im Stundentakt von München nach Lenggries und auch von Bayrischzell wieder zurück. Alle Strecken und Abfahrtszeiten unter www.bayerischeoberlandbahn.de. Mit einem Bayernticket der Bahn für 35 Euro kommen fünf Personen bequem an den Startpunkt. Pro Fahrrad ist ein Tagesticket von fünf Euro zu lösen.
Routenplanung:
85 km in zwei Radtagen und drei Übernachtungen ca. 3200 Höhenmeter
Karten:
AV-Karte BY 13, Mangfallgebirge West, 1:25 000, AV-Karte BY 15 Mangfallgebirge Mitte, 1:25 000
Literatur:
BIKEGuide Tegernsee, Thomas Rögner, Delius Klasing Verlag, 2012, Mountainbike Touren Band 6: Tegernsee Schliersee Bayrischzell, Susi Plott und Günter Durner, Am Berg Verlag, 2013.