FREEDOM | IN OBERTAUERN
Ivica Kostelić über seinen Weg vom Starthaus in die Freiheit
Text: Birgit Ertl // Fotos: Saša Drobac
Wenn man Ivica Kostelić begegnet, begegnet man einem Mann, der das Extreme kennt und dennoch die Ruhe in sich trägt. Jahrzehntelang stand er in Starthäusern dieser Welt, die Skier präzise ausgerichtet, den Blick starr auf die Ideallinie gerichtet. Viermal gewann er den Gesamtweltcup, holte Medaillen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen, schrieb Skigeschichte und zahlte dafür mit fast jeder Faser seines Körpers. Heute, Jahre nach dem letzten Rennen, sucht Kostelić das, was ihm im Weltcupzirkus oft gefehlt hat: Freiheit.
Die Idee zu seinem Film Freedom entstand in einer Zeit, in der das Wort „Freiheit“ plötzlich Gewicht bekam. Es war während der Covid 19 Lockdowns. Grenzen schlossen, Straßen leerten sich, der Alltag kam zum Stillstand. „Ich habe damals erkannt, dass Freiheit nichts Selbstverständliches ist“, erzählt Kostelić. „Erst wenn dir etwas genommen wird, begreifst du seinen wahren Wert.“
Während viele Menschen keine Möglichkeit hatten, die eigenen vier Wände zu verlassen, zog es ihn hinaus in die Berge, ans Meer, dorthin, wo Bewegung noch möglich war. Er begann, andere Athleten zu fragen, was Freiheit für sie bedeutet. Aus diesen Gesprächen wuchs die Idee für einen Film, der weit mehr sein sollte als eine Hommage ans Freeriden. Freedom wurde zu einer Suche nach dem, was wir wirklich mit dem Begriff “Freiheit” verbinden.

Vom Skirennläufer zum Freerider
Schon als Kind, erzählt Ivica, habe er sich manchmal davongeschlichen, wenn die Trainings zu streng wurden. Statt Slalomstangen fuhr er lieber durch unberührten Schnee. „Tief in mir wusste ich immer: Freeriding ist die Essenz des Skifahrens, während alpines Skifahren die zivilisierte Form davon ist“, sagt Kostelić. Als er 2017 endgültig die Rennski in die Ecke stellte, war das kein Bruch mit dem Skifahren, sondern ein neuer Anfang. In Freedom zeigt er, wie er in den Bergen von Obertauern eine neue Art von Linien zieht – nicht mehr gegen die Uhr, sondern mit sich selbst im Einklang.

Der Ort, an dem Freiheit beginnt
Gedreht wurde der Film vollständig in Obertauern. Eigentlich war der Dreh gar nicht geplant. Es war ein spontanes Projekt. Obertauern hatte ihn als Gast eingeladen, und bald wurde daraus eine Freundschaft mit der lokalen Freeride Community. „Die Gastfreundschaft dort hat mich tief beeindruckt“, erinnert sich Kostelić. „Ich wollte etwas zurückgeben, etwas schaffen, das bleibt.“ Die Region, ohnehin ein Hotspot für Tourengeher und Freerider, wurde zur Bühne seiner Reise. Dabei verzichtete das Team weitgehend auf mechanische Aufstiegshilfen. Die meisten Schwünge wurden ehrlich erarbeitet. „Es gab Momente, in denen Ausdauer gefragt war, wo jeder Höhenmeter schmerzte“, erzählt er. „Aber genau das machte es lohnend. Wir haben uns jeden Turn verdient.“

Athleten, die einander verstehen
Für Freedom holte Kostelić sich alte Weggefährten vor die Kamera, darunter Daron Rahlves und Akira Sasaki, beide frühere Konkurrenten aus dem Weltcup. Es war eine Art Wiedersehen auf anderer Ebene. „Wir haben uns als Racer immer respektiert, aber diesmal ging es um etwas Tieferes“, sagt Kostelić. „Freiheit betrifft uns alle, egal aus welchem Land wir kommen oder wie viele Rennen wir gewonnen haben.“ Für seinen Film wollte Ivica Stimmen aus aller Welt einfangen und das bewusst in den Muttersprachen seiner Protagonisten. „Ich wollte, dass sie sich vollkommen ausdrücken können, ohne Übersetzungsfilter“, erklärt er. Besonders fasziniert habe ihn die Perspektive des Japaners Sasaki, „diese Mischung aus Abstraktion und fernöstlicher Spiritualität“.

Zwischen Körper, Geist und Schnee
Der Film ist kein klassischer Action-Streifen, sondern eine meditative Erkundung. Die Kamera bleibt oft ruhig, lässt Raum für Stille. Doch die physische Herausforderung war enorm. Ohne Helikopter, meist mit Tourenski unterwegs, wurden viele Szenen unter härtesten Bedingungen gedreht. „Ich war an meine Grenzen gekommen, körperlich, aber auch mental“, erzählt Kostelić. „Doch es war eine Belohnung, keine Belastung.“ Eine Szene bleibt ihm besonders im Gedächtnis: der lange Zoom-Out an der Windschaufel. „Eigentlich sollte jemand anderer diese Line fahren“, sagt er. „Aber dann tat ich es und das wurde zum Herzstück des Films. Vielleicht war das Schicksal.“

Ein Leben für den Schnee
Dass Kostelić überhaupt diesen Weg finden konnte, hat viel mit seiner Vergangenheit zu tun. Geboren 1979 in Zagreb, aufgewachsen in den jugoslawischen Alpen, war er von klein auf Teil eines Ausnahmeprojekts: Vater Ante formte ihn und seine Schwester Janica zu Weltklasseathleten. Das kleine kroatische Team, das oft in einem Van lebte und auf eigene Faust trainierte, schrieb Sportgeschichte. Ivica war der Taktiker, der Denker, der Philosoph unter den Rennläufern, Janica die Naturgewalt. Gemeinsam sammelten sie Weltcupkugeln und Medaillen und prägten ein Land, das bis dahin kaum Skigeschichte kannte. Doch die Härte des Systems forderte ihren Preis: zahlreiche Verletzungen, OPs, Rückschläge. Heute blickt Kostelić ohne Bitterkeit zurück. „Ich würde nichts ändern“, sagt er. „Ich akzeptiere meinen Weg, mit allem, was dazu gehört.“

Freiheit als Lebensgefühl
Seit dem Ende seiner aktiven Karriere trainiert er weniger – aber er trainiert. „Ich brauche Projekte wie Freedom, um mich fit und motiviert zu halten“, erzählt er und dann lacht er: „Manche würden sagen, das ist keine Freizeit. Ich nenne es extreme leisure.“ Auch wenn er heute weniger Rennen fährt, bleibt der Wettbewerb, diesmal mit sich selbst. Freiheit, sagt er, bedeutet für ihn heute, „denken, handeln und erschaffen zu können, ohne sich an gesellschaftliche Normen, Erwartungen oder sogar die eigenen Vorurteile zu binden“.

Mehr als ein Film
Freedom ist damit mehr als ein Freeride-Movie. Es ist ein Statement. Ein Versuch, das Unaussprechliche sichtbar zu machen: Das Gefühl, wenn alles verschwindet außer Schnee, Wind und das eigene Atmen.
Ob es eine Fortsetzung geben wird? „Vielleicht“, sagt Kostelić geheimnisvoll. „Das Thema ist noch lange nicht erschöpft. Wir haben erst an der Oberfläche gekratzt.“ Denn wenn einer weiß, wie man sich aus festen Linien befreit, dann Ivica Kostelić.











