Family Shred - Livigno
Family Shred - LIVIGNO
Eigentlich wollten wir ja zum Biken nach Livigno. Aber ich hatte die Rechnung ohne die wuselige Einkaufsmeile inmitten der italienischen Bergwelt gemacht. Ein Zoll Sonderstatus, der noch auf Napoleon zurückgeht, macht das Shoppen in Livigno so günstig.
1805 wurde Livigno wegen seiner exponierten und früher im Winter kaum erreichbaren Lage von Napoleon zur zollfreien Zone erklärt. Bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war der Ort sechs Monate im Jahr von der Außenwelt abgeschnitten und bekam deshalb den Spitznamen „Piccolo Tibet“. Seitdem wird der Passo di Foscagno auch im Winter geräumt und macht Livigno so ganzjährig aus dem Süden erreichbar. Von der Nordseite erreicht man das Hochtal auf spektakuläre Weise durch den 1968 erbauten, mautpflichtigen und einspurigen Muntla-Schera-Tunnel. Er diente für den Transport von Baumaterial für die 130 Meter hohe Bogenstaumauer des Lago di Livigno. Nachdem die Mauer fertiggestellt und der See geflutet wurde, wurde der Tunnel mit Einschränkungen auch für den allgemeinen Verkehr geöffnet. Nach gut 3km enger und dunkler Fahrt spuckt uns die Röhre direkt auf der Staumauer inmitten einer beeindruckenden Bergwelt aus. Nach den Zollformalitäten – die bei der Einreise noch sehr locker sind und einer wunderbaren Fahrt entlang des Stausees, erreicht man den Hauptort Livigno, in dem im Winter 33 Liftanlagen die Skifahrer auf 115km Pisten schaufeln. Im Sommer haben Mountainbiker die Qual der Wahl: Rechte Seite oder linke. Trails oder Park. Selbst treten oder Shuttle.
Wir suchen zuerst mal unser Hotel, checken ein und begeben uns auf eine erste Erkundungstour in den Ort. Ich sammle die Gebietskarten und informier mich über die Möglichkeiten, meine beiden Jungs schießen wie Dumdum-Geschosse von Klamotten-, zu Technik-, zu Süssigkeitenläden und meine Frau tut das einzig Richtige: Sie organisiert einen Tisch in einer der vielen schönen Bars und bestellt erst mal einen Spritz. Der schmeckt natürlich hier in Italien, bei prallem Sonnenschein so gut wie nirgends sonst und wird – auch natürlich - mit ein paar Knabbereien serviert, die zum Sitzenbleiben einladen, um die Pläne für die nächsten Tage zu schmieden. Alle paar Minuten kommen unsere Jungs, um von weiteren Preis-sensationen zu berichten: „Das iPhone 12 kostet nur 800,- EUR! – krieg ich das?“
Da wir es mit den Bikes erst mal ruhig angehen lassen entscheiden wir uns für den ersten Tag für die Trails am Sitas. Direkt aus dem Ortszentrum kann man mit zwei Bahnen bis auf 2.700m gondeln. Die Mountain Area Sitas bietet insgesamt 11 Strecken für Biker unterschiedlicher Arten und Schwierigkeitsgrade: 6 leichte Strecken, 2 mittelschwere und 3 schwierige. Für Anfänger und Junior-Shredder ist die „Bike Academy“ - ein 5km langer Trail für Anfänger auf dem 8 Übungsbereiche integriert sind - super cool. Der Trail geht an der Rifugio Costaccia direkt in den Roller Coaster über, der immer wieder atemberaubende Ausblicke über den Stausee und den Ort bietet. Auf den letzten 200 Höhenmetern zurück zur Gondel kann man sich dann in „The Snake“ noch mal richtig schwindlig fahren – in engen, gefühlten 200 Kurven geht es über die Almwiese zurück zur Talstation. Der perfekte Auftakt mit super angelegten, flowigen Trails, einem typisch ita-lienischen Mittagessen am Berg (Burger) und teilweise schon Einsamkeit der Bergwelt.
Das ändert sich deutlich, als wir am zweiten Tag die Tal-seite wechseln: Jumpkissen, Musik, Fullface und Downhillräder. Der Mottolino-Bike-Park ist das Aushängeschild der Region und sicher einer der besten Bike-Parks Italiens. Seit dem Downhill-Weltcup 2005 hat sich viel getan: Mittlerweile kann man auf der Mottolino-Seite des Tals aus über 13 Trails wählen, vom Flow-Trail bis zur besagten World-Cup-Downhillstrecke. Wie immer wollen wir es mit dem „take it easy“ erstmal locker angehen. Meine zwei Nachwuchsshredder biegen aber schon im oberen Teil immer wieder in die „Flow Line“ ab, die wir immer wieder kreuzen und auf der wir dann auch ins Tal rollen. Die zweite Abfahrt auf dem „Enduro Natural Trail“ erweist sich dann für unser jüngstes Teammitglied als zu anspruchsvoll. Sei es, weil er fertig ist, Hunger hat oder einfach von den bisherigen perfekt geshapeten Trails verwöhnt ist, wird die Abfahrt zur Herausforderung für die Papa-Sohn- bzw. Bruderbeziehung, denn nicht mal das feinfühligste gute Zureden bringt in diesem Moment noch was. Schiebender Weise erreichen wir Gott sei Dank bald eine Forststraße, die zurück nach Livigno führt. Aber auch die leckere Pasta auf dem Panorama Restaurant können die Speicher nicht mehr so auffüllen, dass es für weitere Runs reicht. In dezimierter Gruppenstärke nehmen wir also den „EAS 23“ und „Stoner“ und treffen die anderen immer wieder oben am Berg oder dann unten beim Jumpkissen. Die nachmittägliche Tour durch die Süssigkeitenläden und eine Pizza und Cola, lässt aber auch beim Junior die Verzweiflung im Trail schnell vergessen.
Dritter Tag, drittes Gebiet – bzw. das höchste kommt zum Schluss. Das Carosello 3000-Gebiet ist Livignos Flow-Berg. Mountainbike-Legende Hans „No Way“ Rey hat hier zehn verschiedene Flowtrails entworfen und gebaut: Flowig und abwechslungsreich erstrecken sich die 10 Trails auf über 50km. In karger Hochgebirgslandschaft starten wir auf genau 3000m zu unserer längsten Abfahrt. Flowig, ohne viel Bremsen geht es auf dem „Bikers United“ über die Almwiesen, vorbei an grasenden Schafen und einer Wildpferde-Herde, immer wieder gespickt mit technisch anspruchsvollen Kurvenkombinationen. Auf Höhe der Mittelstation tauchen wir in den Wald ein und genießen die schön angelegten Trails der „Blueberry Line“ entlang des Bergbachs in Richtung Talstation. 1200hm am Stück – das saugt die Pommes-Speicher.
"Papa, kriege ich ein neues iPhone?" natürlich zur Gänze leer und schreit nach einer frühen Mittagspause am Berg, bei der zum Essen immer die beeindruckende Aussicht als Beilage gereicht wird. Und zu einem ersten Fazit: Die Trails seien cool, das Essen, egal ob am Berg oder unten im Ort, super lecker, die Shoppingmeile „mega“ und wir könnten gerne noch mal kommen. Als ich dann aber von den vielen Touren schwärme, die man hier fahren könne, von ruhigen Seitentälern und Ganztagestouren, kommt die klare Absage: Es heißt Family Shred, nicht Family Tour! Als uns der nette Zöllner am nächsten Tag, bevor wir uns wieder „durch die Röhre“ aus Livigno verabschieden, nach „zu verzollenden Waren“ fragt, blökt es nur von der Rückbank: „Leider nein!“
Foto & Text: Bergstolz