C’est si bon! // From Switzerland with Love
Das Wallis – oder französisch Valais – erstreckt sich vom Genfer See im Westen bis östlich des Aletsch gletschers. Berühmtestes Wahrzeichen des Wallis: Logisch, das Matterhorn im Süden, an der Grenze zu Italien. Im Westen des Wallis, angrenzend an Frankreich und eingebettet zwischen Genfer See und dem Massiv des Mont Blanc, befindet sich die Région Dents du Midi.
„Dents“, das sind die Zähne – sieben, in etwa gleich hohe Gipfel, die die Landschaft und das Rhônetal von Martigny in Richtung Genfer See dominieren. Immer noch keine Vorstellung? Schon mal was von Champéry gehört? Na eben! Skifahren ist hier genauso selbstverständlich wie atmen: Man tut es einfach, als Kind mit den Eltern und mit der Schule, später mit Kumpels. Skifahren, das gehört hier zur Identität der Menschen dazu wie der Name, den sie tragen. Keine große Überraschung, dass es im Valais gute Skifahrer gibt wie woanders Sand am Meer.
Und wie das so ist mit guten Skifahrern, beginnen die irgendwann die Welt auf ihren zwei Brettern zu entdecken: Contests oder Filmdrehs führen sie rund um den Globus, an die entlegensten und verrücktesten Orte des Planeten – um Ski zu fahren. So ging es auch Laurent De Martin und Titouan Bessire. Der erste lange Zeit Slopestyler und mit dem Swiss Freeski Team unterwegs, zweiterer professioneller Filmer. Nachdem er Vater geworden war, fragte sich „Titou“, wie er seinen Beruf mit Familie unter einen Hut bringen sollte. Er wollte abends einfach zuhause sein, nicht mehr wochenlang durch die Weltgeschichte tingeln. Laurent ging es nicht viel anders, er war die vielen Reisen satt. Die Lösung war einfach: Ein Film von zuhause über zuhause. Nur zuhause. Keine Szenen aus weit entfernten Destinationen, keine exotischen Filmorte. Ein Film wie eine Postkarte von daheim: „From Switzerland with Love.“
Beiden war aufgefallen, dass sie den Blick für ihre heimatlichen Berge ein wenig verloren hatten, obwohl alles, was man für einen ordentlichen Skifilm braucht, direkt vor der Haustüre läge. Und sie machten sich gemeinsam daran, ihre Hausberge neu zu entdecken. Dabei ging es nicht nur darum, Skiporn zu produzieren, sondern, wie Laurent es ausdrückt, den Menschen in der Region etwas zurückzugeben: „Meine Eltern, meine Partner, so viele Menschen hier unterstützen uns bei unseren Projekten. Sie sollen gezeigt werden, sie sollen etwas zurückbekommen.“ Und außerdem – nicht ganz unbedeutend – wollten sie mit ihrem Film zeigen, wie vielfältig man ihre Heimat auf Ski entdecken kann - wenn man denn die notwendigen Skills mitbringt, so viel sei vorausgeschickt.
Die Vorbereitung
Auf in die Planung! Location: Check. Drehbuch: „Worlds collide! Street skiing meets Backcountry meets Freeride“ - check. Crew: Laurent und ein Haufen Locals wie Mathieu Schaer oder Alex Chabod, dazu Lucas Wachs und Will Berman – check. Schnee: Uuuuuh… Schnee, der ja irgendwie dann doch essenziell für einen Skifilm ist, war vergangenen Winter Mangelware, so auch im Wallis. Und da der Film ja ohne Trips auskommen musste, hieß es, kreativ zu werden. Ein weiterer Plan musste her, damit alles ready war, wenn Frau Holle dann endlich ihre Betten schütteln würde. Wie sie es auch drehten und wendeten, es lief alles darauf hinaus, dass sie so effizient wie möglich arbeiten mussten. Also: Kicker schaufeln und vorbereiten, solange es nicht schneite. Skifahren, wenn es schneite, und dann keine Zeit mit Schaufeln vergeuden. Es wurde viel geschaufelt… aber pünktlich zum neuen Jahr, am 1. Januar 2020, kam Will Berman an und Titouan packte erstmals die Kamera aus.
1. Januar 2020 - Streetskiing
Die heimlichen Stars des entstandenen Streetsegments sind im Grunde genommen die Locations: Eine stillgelegte Liftstation, ein verlassenes Restaurant an einer ehemaligen Piste, der Fionnay-Staudamm und das zugehörige Elektrizitätswerk. Und immer wieder Rails – in jeder Abstufung, Steilheit und Länge.
Die Locations mögen einen beinahe an Russland erinnern (Stichwort: Ruin and Rose), die Jungs sorgen aber dafür, dass man bestimmt sagen kann, in der Schweiz gelandet zu sein: Geschaufelt wird in Warnwesten, zur Sicherheit. Ein Überraschungsbesucher kommt auch vorbei, nämlich Laurents Großvater. Dem ist das Erstaunen darüber, was sein Enkel mit seinen Freunden auf Skiern anstellt, direkt ins Gesicht geschrieben – und sein Stolz, auch wenn alles nur entfernt an klassisches Skifahren erinnert. „Es war schön, dass mein Opa vorbeigekommen ist, er wohnt gleich ums Eck wo wir gefilmt haben und ich hab ihn eingeladen, dass er sich das mal ansieht. Bis zu diesem Tag hat er nicht ganz verstanden gehabt, was ich mache, aber jetzt kennt er sich aus“, sollte Laurent später in einem Interview erzählen.
23. Februar 2020 – A Warm Welcome
Flughafen Genf, Lucas Wachs ist im Anflug. Seine Ski und Boots ebenfalls, nur die Klamotten sind verloren gegangen. Was dem herzlichen Willkommen, das ihm die De Martins bereiten, keinen Abbruch tut. Mama wartet nicht nur mit Bier und Brotzeit auf, sondern kredenzt dem Gast aus Übersee gleich auch noch sämtliche Skibilder aus Laurents Kindheit. Irgendwie beruhigend, dass es auch von ihm dieselben Fotos gibt, die wir alle zuhause haben: Overall, Startnummer, Stöcke unter die Arme geklemmt und in „Abfahrtshocke“ durch die Stangen brausend…
26. Februar 2020 – Snow is coming
Endlich! Dicke, weiße Flocken fallen aus dem Himmel und verwandeln die Région Dents du Midi in ein Winterwonderland. Jetzt heißts Gas geben: An Japan erinnernde Treeruns mit jeder Menge Backcountry-Action im Schneegestöber gehören auf Zelluloid bzw. auf Datenträger gebannt. Das Motto ist auch klar: Into the white room! Als das Wetter aufklart, lassen sich auch die Big Mountain Lines erahnen. Wer jemals in der Gegend war, kann gut verstehen, warum sich selbst die abgebrühten Profis dem Zauber und der Schönheit der Grenzregion zwischen der Schweiz und Frankreich nicht entziehen können. Ein Sonnenaufgang über tiefverschneiten Gipfeln ist nirgendwo auf der Welt einfach zu toppen. Sie brechen auf in Richtung Grenze, eine Hütte, die früher von Zöllnern als Unterschlupf benutzt wurde, ist ihr Ziel. In der Abgeschiedenheit wollen sie die Freeride Lines filmen, denn das ist Titous Ziel: Die gesamte Bandbreite an Skimöglichkeiten in der Region zeigen. Und auf seiner Liste fehlen eben noch die Freeride Lines.
Nach dem heftigen Schneefall finden sie Bedingungen vor, wie sie besser nicht sein könnten: Massen an pulvrigem Schnee, ein tiefverschneiter Winterraum, der erst ausgebuddelt werden muss, strahlende Wintersonne und jede Menge Kicker, natürliche und selbst gebaute. Let the good times roll!
Der Shot ist großartig, aber das ist nicht cool
Alles easy? Alles gut – bis zur Lawine. Im Nachhinein ziemlich klassisch: Die Jungs haben richtig Gas gegeben. Der Winter war bis dahin schlecht, es gab nicht viel Schnee, sie wollten so viel gutes Material wie möglich filmen und haben sich ordentlich gepusht. Mathieu Schaer fährt am Grat entlang, droppt mit dem Snowboard über eine Wächte in das Face und löst so direkt eine Lawine aus. Filmer Titouan und Fotograf Ruedi halten drauf, nicht nur um das Bild festzuhalten, sondern um im Notfall auch sagen zu können, wo Mathieu im Schnee verschwindet. Der reagiert instinktiv richtig, stellt das Brett grade und schafft es wirklich, aus dem Abgang auszufahren. Der Schock steht ihm anschließend ins Gesicht geschrieben. „An diesem Nachmittag sind wir nur mehr runtergefahren, da ging nichts mehr. Wir haben danach alles durchgesprochen, unsere Fehler angesprochen, aber auch, was wir richtig gemacht hatten. Wir hatten etwas Stress, weil wir gefühlt noch lange nicht genügend Powderbilder für den Film hatten. Deswegen haben wir das Tempo angezogen und uns ziemlich angetrieben“, erinnert sich Laurent später an diesen Tag. „Aus diesem Grund hatten wir an diesem Tag auch ein paar Freunde mit am Berg – um im Notfall gerüstet zu sein. Das haben wir gut gemacht. Aber eine falsche Entscheidung war es definitiv, diesen Hang zu fahren. Das war unser Fehler.“
Im Schneideraum diskutieren sie, ob die Szene im Film bleiben sollte oder nicht. Die Entscheidung darüber fällt letztendlich Mathieu selbst. Er besteht darauf, dass auch seine Reaktion im Anschluss im fertigen Film zu sehen sein muss. Tenor: Die Bilder sind Wahnsinn, aber das ist nicht cool! Niemals.
Bad Vibes – Good Vibes
Wie in ganz Europa fährt auch die Schweiz das öffentliche Leben praktisch auf Null runter, die Skigebiete schließen. Ein letzter Group Shred, fassungslose Gesichter. Ist der Winter jetzt vorbei? Fast…
„So konnte unser Film schließlich nicht enden! Am Ende sind es doch die unvergesslichen Erlebnisse mit Freunden, die Good Vibes an einem perfekten Skitag, die uns das Grinsen ins Gesicht zimmern und uns wieder rausgehen lassen. Und genau diese Vibes wollten wir rüberbringen.“ Und aus diesem Grund endet die Liebeserklärung von Laurent und Titouan auch nicht mit dem Corona-Lockdown, sondern mit der After-Lockdown-Session am 7. Mai 2020. C’est si bon!